Unerbittlich gegen Russland: Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas wird neue Chefdiplomatin der EU (2024)

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Von: Christiane Kühl

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Estlands Regierungschefin Kaja Kallas warnte schon vor Russland, als es kaum jemand hören wollte. Nun wird sie EU-Außenbeauftragte und folgt auf Josep Borrell.

Nato-Generalsekretärin ist Kaja Kallas nicht geworden. Aber nun tritt Estlands Ministerpräsidentin die Nachfolge von Josep Borrell als neue EU-Chefdiplomatin an. Der EU-Gipfel segnete am Donnerstag das Spitzenpersonal der neuen EU-Kommission ab. Neben EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen von den Christdemokraten und dem sozialdemokratischen Ex-Ministerpräsidenten Portugals António Costa als neuem Vorsitzenden des EU-Rats vertritt Kallas gemäß dem Parteienproporz bei den drei Spitenjobs die Liberalen.

Mit Kallas als Außenbeauftragter gewinnt der Nordosten Europas in Brüssel an Einfluss. Und damit auch jene Länder an der Ostflanke der Nato, die Russland und seinen Angriffskrieg in der Ukraine am meisten fürchten. Ihr Vorgänger, der Noch-Chefdiplomat Josep Borrell, kommt aus Spanien und damit aus einem Land weit entfernt von der Konfliktzone. Die EU-Spitze setzt mit der Personalie Kallas daher auf einen glasklaren Kurs im Ukraine-Krieg: hart gegen Russland und mit großer Unterstützung für die angegriffene Ukraine.

Kallas: Hart gegen Russland, überzeugt für Europa

Tatsächlich war Kallas wegen ihrer Unerschrockenheit gegenüber Moskau auch kurz als Nato-Generalsekretärin im Gespräch. Doch die Skepsis war groß bei manchen, denen die 47-Jährige zu forsch ist, zu unerbittlich gegenüber Russland. Kallas an der Spitze von Nato oder EU-Außenpolitik sei für viele Hauptstädte „heikel“, zitierte die US-NachrichtenplattformPolitico Europeim März anonyme EU-Quellen. Wolle man für solche Posten wirklich eine, die „Russen zum Frühstück esse“? Kaja Kallas antwortete prompt und zeigte den „liebenPolitico-Europe-Lesern“auf X ihr wahres Frühstück: Müsli mit Blaubeeren und einem Pott Tee. Nun bekommt sie statt dem Nato-Chefsessel das Außenpolitik-Portfolio der EU.

Kallas gilt als überzeugte Europäerin. Von 2014 bis 2018 saß die Juristin und dreifache Mutter als Abgeordnete für die liberale Reformpartei im EU-Parlament und kennt die EU-Prozesse daher bestens. Seit 2021 ist sie Ministerpräsidentin. Auch ihr Vater Siim Kallas war einst estnischer Ministerpräsident und von 2004 bis 2014 EU-Kommissar in verschiedenen Ressorts.

Unerbittlich gegen Russland: Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas wird neue Chefdiplomatin der EU (1)

Ihre Stimme in Europa hatte auch wegen ihrer klaren Haltung zur Sicherheitspolitik stets mehr Gewicht, als es das kleine Estland vermuten ließ. Daheim aber geriet sie 2023 durch eine Affäre um ihren Ehemann Arvo Hallik unter Druck: Hallik war an einem Transportunternehmen beteiligt, das noch während des Ukraine-Krieges Geschäfte in Russland machte. Hallik kündigte damals an, die Anteile abzustoßen. Aber auch wenn die Firma wohl nicht gegen Sanktionsregeln verstoßen hat, ist die Geschichte dennoch peinlich – gerade weil Kaja Kallas stets eine härtere Gangart gegenüber Russland fordert. Sie betonte damals, sich mit ihrem Mann nicht über Geschäftliches zu unterhalten und überstand nach einiger Zeit die Affäre.

Osteuropa nimmt Gefahr durch Russland stärker wahr

In Europa steht jedenfalls die Kompetenz der Politikerin im Fokus und weniger ihre innenpolitischen Probleme. Erfreut über ihre Nominierung zeigte sich etwa ihre Parteifreundin, die FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann – die wie Kallas für eine robuste Unterstützung der Ukraine ist: „Sie ist mit ihrer Expertise die beste Wahl, um zu den großen Herausforderungen einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik die richtigen Lösungen zu finden.“

Kallas hat ebenso wie andere Osteuropäer aufgrund der geografischen Nähe Estlands zum großen Nachbarn Russland eine andere Wahrnehmung der Gefahr, die von Moskau ausgeht. Die russische Verhandlungstaktik entspreche noch heute derjenigen aus Sowjetzeiten, sagte Kallas 2022 auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit Blick auf die Ukraine – und zitierte den einstigen UdSSR-Außenminister Andrej Gromyko: „Erstens: Verlange das Maximum. Bitte nicht darum, sondern verlange etwas, das dir nie gehört hat. Zweitens: Stelle ein Ultimatum und drohe. Drittens: Gib in Verhandlungen keinen Zentimeter nach – da es im Westen immer Leute geben wird, die dir etwas anbieten. Und dann bekommst du ein Drittel oder gar die Hälfte von etwas, das dir nie zuvor gehört hat.“ Das Wissen über diese Strategie müsste der Westen „immer im Kopf behalten“.

Kaja Kallas: Keine Angst vor Putin

Kallas hält jedenfalls nichts davon, sich von Russlands Präsidenten Wladimir Putin einschüchtern zu lassen. „Angst ist eine Falle, diePutingegen uns alle in der freien Welt aufgestellt hat. Drohungen der russischen Führung und Bilder von Atomexplosionen im russischen Staatsfernsehen sollen unsere Völker verängstigen und unsere Entscheidungen beeinflussen“, sagte sie im Februar in Hamburg. Unter den Zuhörern war auch Bundeskanzler Olaf Scholz.

Man darf gespannt sein, wie Kallas in ihrem neuen Job mit dem Russland- und China-Freund Viktor Orbán umgehen wird, der ab 1. Juli mit Ungarn für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Kallas möchte die Ukraine in die Nato aufnehmen und Munitionslieferungen an das Land in der EU koordinieren. Auf die Wirtschaftsleistung gerechnet ist Estlandder weltgrößte zivile und militärische Unterstützer der Ukraine. Kallas erhöhte nicht nur die Verteidigungsausgaben ihres eigenen Landes, sie forderte auch die anderen Europäer auf, mehr in ihre Sicherheit zu investieren. Das kann sie nun im Namen der EU tun.

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